Das Ende der Kreidezeit. Eine Meditation.

Zur Videoinstallation ABIOTISMUS / Matter von Simona Koch

 

Vortrag von Barbara Maria Kloos

zur Eröffnung des neuen Gebäudes des Instituts für Theoretische Physik, Universität zu Köln,

am 4. Dezember 2014



„Jedenfalls bin ich der festen Meinung, daß hinter der Watte (des Tagesablaufs) ein Plan versteckt ist, daß wir – ich meine, alle Menschen – damit im Zusammenhang stehen, daß die ganze Welt ein Kunstwerk ist, und daß wir alle Teile dieses Kunstwerks sind.“
Virginia Woolf: Augenblicke. Skizzierte Erinnerungen


Wer sich dem komplexen und rätselhaften Werk Simona Kochs nähert, sieht sich schnell aus einer illuminierten Wunderkammer in die Untiefen der Evolution katapultiert. Damit meine ich kein prähistorisches Nirvana, sondern jenen endlosen Wachstums- und Vernichtungsprozeß, dem das Leben auf Erden ebenso unterliegt wie die Bewegungen des Universums. Zwar läßt sich Kochs Kunst auf keinen Nenner bringen, weil Themen, Materialien, ihr virtuoses Spiel mit analogen wie digitalen Techniken immer neue Bewußtseinsräume eröffnen, aber im Zentrum steht der verwandtschaftlich vernetzte Organismus als Topos und Mysterium. (1)
Wie eng sich Pflanzen, Tiere, Hominiden zwischen vagabundierenden Genfragmenten auf dem Stammbaum drängeln, den wir uns weniger als Naturgestell mit Herrenkrone, denn als Kontaktpool fluktuierender Bündnisse vorstellen müssen, Experten erforschen es, Simona Koch läßt es uns empfinden.
So hat sie in der Arbeit Jesus und ich die Generationenfolge von ihrer Geburt im Jahre 1974 bis zum Gottessohn zurückgerechnet; hat – auf den Spuren eines fiktiven Zeitgenossen Darwins – Stammbäume kreiert, in deren Gezweig der Homo Plantae als sanfter Hybrid zwischen Pflanze und Mensch „vegetiert“; in der audiovisuellen Rauminstallation Essentia sehen wir Hände, die an einem wuchernden Ahnengewebe knüpfen.
Auf Simona Kochs Homepage begrüßt uns ein gläserner Wächter, den die Künstlerin nach dem Modell Säugetier konstruiert hat. Ein strahlendes rotierendes Bällchen aus Haut und Innereien, das nichts außer atmen und verdauen kann. Das muß ein Rheinländer sein! Der Gnom scheint uns anzublinzeln, auch wenn es sich bei den „Äuglein“ nur um Nahrungsreste im Darm handelt. Seltsam, wie Kochs virtuelles Minimonster unsere eigene Verletzlichkeit bewußt macht. Es erinnert an die zarte Textur von Säuglingen ebenso wie an die durchsichtige Blässe Sterbender.
Der Haut hat Koch auch eine Serie von Bleistiftzeichnungen gewidmet. Derma feiert unsere hypersensible Membran zwischen Innen und Außen als geheimnisvoll strukturierte Landschaft voller Grotten, Buchten, Lippen, Maserungen. Das Werk beleuchtet unsere Vergänglichkeit, aber auch Metamorphosen in Flora und Fauna.
„Man kann es drehen und wenden wie man will: Stern, Sand, Feuer, Wasser, Baum, Mensch, alle sind aus demselben Stoff und verraten die gleichen Eigenschaften“, schreibt der Dichter und Philosoph Ralph Waldo Emerson in seiner berühmten Essaysammlung Nature. Daß die sogenannte unbelebte Welt beseelt ist, behaupten nicht nur Animisten und Esoteriker; der um Eurydike trauernde Orpheus rührte der Sage nach mit seinem Gesang Tiere, Pflanzen und Steine zu Tränen. Aktuelle Experimente belegen, daß zumindest Pflanzen über feine Wahrnehmungsinstrumente verfügen, tatsächlich spüren, riechen, sich verständigen und erinnern können.
In ihren ABIOTISMUS-Zyklen, das Wort ist altgriechischen Ursprungs und bedeutet ohne Leben, widmet sich Simona Koch jenen unbelebten Stoffen, ohne deren verblüffende Dynamik kein Dasein möglich wäre.
Eine ästhetische Rezeptionsgeschichte des Anorganischen müßte um die Mischung aus Bewunderung und Schauder kreisen, die der sogenannte „Bildungstrieb“, die „chemische Blumentreiberei“ (2) von Mineralien, Gesteinen oder Salzen nicht nur in der Romantik ausgelöst hat. Sie spiegelt auf paradoxe Weise die Ambivalenz gegenüber der weiblichen Sexualität und Fruchtbarkeit. Und doch machen diese „kummervolle(n) Imitatoren des Lebens“, so Thomas Mann im Dr. Faustus, das Substrat, den geisterhaften Untergrund unserer Existenz aus.
Nach den Filmen Blut und Wasser, animierte Bleistiftzeichnungen, die die Blutzirkulation mit dem globalen Wasserkreislauf in Beziehung setzen und damit die Erde selbst als durchströmten Mega-Organismus interpretieren, ist Simona Kochs dritte Serie nun der Materie gewidmet. Die Künstlerin charakterisiert ihr neues Werk, das Kreidezeichnungen auf einer Schiefertafel in Bewegung versetzt, als einen „Tanz der Teilchen, ein Teilen und Verschmelzen, ein Materialisieren und Zerfallen; der Blick ins Fernrohr und in das Mikroskop werden eins.“
Visuelle Darstellungen haben in der westlichen Wissenschaft seit der Renaissance eine zentrale Rolle gespielt; selbst in der theoretischen Physik, die traditionell eher mit Formeln operiert, wird die Visualisierung immer wichtiger. Die Welt des Winzigkleinen wie des Gigantischen kann heute durch so sensible Verfahren sichtbar gemacht werden, daß Fiktion und Realität verschwimmen. (3) Die faszinierenden Farbmuster der Fraktal- und Chaosforschung finden ihr Echo in der bildenden Kunst, oder ist es eher so, daß malerische Visionen schon lange das Strukturwissen von Ordnung und Chaos vorwegnehmen.
Auch der fünfteilige ABIOTISMUS-Zyklus Materie reflektiert und transzendiert in seiner scheinbaren Einfachheit und archaischen Sogwirkung den wechselseitigen Erkenntnisraum von Kunst und Wissenschaft. Letztlich geht es immer um kreative Prozesse zwischen Berechnung und Intuition, die, wie die Schriftstellerin Friederike Mayröcker schreibt, „nicht von Grenzen getrennt, sondern in Grenzen verbunden“ sind.
Kurz zur Machart der fünf Videoloops: jeder Film beruht auf ca. 2000 Bildern und richtet sich grob nach einem vorher erstellten Skript. Simona Koch zeichnet in einem abgedunkelten Raum auf eine DIN-A3-Tafel, über ihr hängt eine Kamera, rechts und links sind Lampen aufgestellt: sie folgt ihrem Skript, zeichnet, und bedient dann mit einer Hand den Auslöser. Im Anschluß verwischt sie das Bild für die nächste Einstellung. Sie benutzt Finger, Kosmetikpinsel, Q-Tipps – ein ebenso intimer wie taktiler Prozeß, als verteile sie die Kreide wie Puder auf dem Antlitz der Tafel. Photos dokumentieren, wie konzentriert diese solitäre, Handwerk und High-Tech, Kalkül und Spontaneität verbindende Arbeit vonstatten geht. Wichtig ist die Endlosschleife, die jeden Part zum „circulus narrativus“ macht; dabei erzählt die Künstlerin nicht linear, sondern entführt uns in traumhaft-assoziative Welten, zu denen sie eigene Kompositionen auf der Zither einspielt.
Jede Kunst, so auch Kochs hypnotische Projektionen, entfaltet ihre Bedeutung erst in der Symbiose von Betrachter und Werk, eine Erfahrung, die sinnlich, intellektuell und spirituell ist und von der Aufmerksamkeit und den Erwartungen der schauenden Person abhängt. So mögen Physiker, Biologen, Astronomen oder Geologen vielleicht andere Zusammenhänge wahrnehmen, als ein psychedelischer Jugendlicher. Doch jeder, der sich diesem phantastischen Reigen überläßt, wird Metaphern des Werdens und Vergehens imaginieren, Schwarz trifft auf Weiß, Tag auf Nacht, Wildheit auf Zähmung, Ying küßt Yang. Da sich Simona Koch auch mit östlichen Schöpfungsmythen beschäftigt, hat die chinesische Kosmologie vom Urei und dem Riesen Pan Gu (4) ebenso Eingang in ihre Zeichensprache gefunden wie Doppelhelix und Atommodell.
Auch im neuen Gebäude der Theoretischen Physik stoßen wir überall auf die altmodische Tafel. Hier werden Einfälle, Probleme, der Gedankenaustausch in kleiner Runde skizziert. Die Tafel steht für das Unfertige, Auslöschbare, Transitorische und damit für unser schweifendes Bewußtsein überhaupt. Spuren halbabgewischter, verworfener Ideen grundieren oder vermischen sich mit neuen Eingebungen. Ein quasi fluider Arbeitsplatz, der ein visuelles wie akustisches! Gleiten des Körpers und des Geistes ermöglicht, während die Kreide wie Kometenstaub an Kleidern, Schuhen, Möbeln haftet. So gesehen sind entrückte Profs eben auch Handwerker.
Doch ist zu befürchten, daß Tafel und Kreide, Relikte einer Schriftkultur, deren Hallraum bis zu den Höhlenfresken unserer Vorfahren reicht, schon bald aus dem öffentlichen Raum verbannt werden. Vielleicht sind wir, ergraute Pflanzenmenschen, die letzten, die, neben Tools wie PC, Notebook oder Tablet, noch Farbstäbchen zwischen den Fingern benutzen. Dann wäre der ABIOTISMUS-Zyklus auch Requiem auf eine untergehende Epoche.
Wie Sie sicher gehört haben, setzt man bei der Wissensvermittlung schon in Kita und Grundschule zunehmend auf den Computer. Die flächendeckende Einführung von Smartboards, überdimensionalen Flachbildschirmen, und personalen Laptops steht kurz bevor; obwohl Neurologen vor den Gefahren für pausenlos vernetzte Schlüsselkinder warnen.
Zur Erinnerung: noch meine Eltern, in den dreißiger Jahren geboren, besaßen – neben der großen Schultafel – ihre eigene kleine Schiefertafel, an der ein Lappen oder Schwamm hing, der auf dem Schulweg am Ranzen baumelte. Die Schiefertafel hatte auf einer Seite Linien, auf der anderen ein Karomuster. Je nach Unterrichtsfach wurde die Tafel gedreht. Man mußte peinlich darauf achten, daß die Hausaufgaben nicht verwischten. Trotzdem war es unmöglich, die Tafel sauber zu halten, der Lappen war schnell verschmutzt, man beugte sich über ein eher trübes Biotop, keine Tabula rasa. Beschrieben wurde die fragile Unterlage mit einem hellgrauen Griffel, der, genau wie die Tafel, letztlich aus fossilen Abbauprodukten bestand. Der Griffel war natürlich weicher als die Tafel, beim Schreiben blieben kleine Partikel zurück. Ein Vorgang, den man – so der werkstoffkundliche Terminus – „Abrasivverschleiß“ nennt. Wurde der Griffel zu fest aufgedrückt, verletzte man die Tafeloberfläche, es blieben kleine Krater zurück, in denen sich unfreiwillig Sedimente ablagerten. So alterte die Schieferplatte wie die menschliche Haut.
Dieser Abrasivverschleiß begegnet uns in Simona Kochs Arbeit wieder. Es grenzt an Alchemie, welche flüssige und feste, schlierenhafte und pointilistische, schaumige und cremige, feine und grobe, zitternde und zähe Textur ihr polymorpher Kreideauftrag haben kann. Alles flackert, schimmert, reformiert sich, löst sich graziös, um neue Beziehungen einzugehen. Wir taumeln durch Tunnel, Spiralen, Labyrinthe, Schlünde, begleitet von Sphärenklang. Umkreisen Gipfel, Wüsten, Blüten, Kristall; da, tief unten, diese badenden Zellen: das gleißende Bestiarium des Ozeans. (5)
Wir ahnen das expandierende Universum vor uns, wie es aus einer Explosion entstand und seinen bizarren Abdruck aus wirbelnden Gasen, Schleiernebeln, Staubkaskaden hinterläßt. Turbulenzen, die apokalyptische Szenarien evozieren. Simona Koch lockt uns in Grenzbereiche der Wahrnehmung, konfrontiert uns mit unserem eigenen Chaos, mit Leben und Tod.
„Ich will mich so lange zerbrechen, bis ich ganz bin“, hat Elias Canetti einmal orakelt; und auch wenn sich die Wissenschaften lange nach Novalis, Goethe, Günderrode stets weiter spezialisieren, so ahnen wir doch, daß sich die Geheimnisse der Schöpfung nur in der empathischen Gesamtschau enthüllen. Und daß hinter jedem gelösten Rätsel ein noch viel größeres lauert.
Nicht der Natur-Terminator, sondern der tief mit den Systemen der Erde verwurzelte Kommunikator, ist als Utopie in Simona Kochs Schaffen präsent. Und es wundert mich nicht, daß sie oft zu abenteuerlichen Expeditionen aufbricht, um etwa einen mysteriösen Pilz in Oregon zu untersuchen, der ganze Wälder vernichtet. Oder sie wirbt mit kühnen Photomontagen aus Stadt und Land für mehr Grün in Ballungszentren. Damit aktualisiert die Künstlerin das vegetative Erbe von Surrealisten wie Max Ernst oder Meret Oppenheim, deren bewachsene Brunnen Paradiesgärtchen in Metropolen zaubern.
Wie wir alle wissen, endete die erste Kreidezeit mit einer gewaltigen Klimakatastrophe, die Flora und Fauna auf der Erde fundamental verändert hat. Was auf die zweite Kreidezeit folgt, die wir gerade unter einem Schlaraffenland – oder sollte ich sagen: Schrottimperium – von neuen Medien zu Grabe tragen, steht in den Sternen.




Anmerkungen:

1) ORGANISMS (Nürnberg 2012) heißt auch ein opulent gestalteter Reader, der Simona Kochs Œuvre im interdisziplinären Diskurs präsentiert. Die kompakte, in Leinen gebundene Publikation, die man, dank aufklappbarer Illustrationen, wie einen Körper entblättern kann, ist eine Hommage an das Buch als vom Aussterben bedrohte Gattung und jedem wissensdurstigen Ästheten ans Herz gelegt.

2) Siehe hierzu den Prachtband: Friedlieb Ferdinand Runge/Judith Schalansky: Der Bildungstrieb der Stoffe, Berlin 2014. (Die Musterbücher des „Dr. Gift“!)

3) Martin Kemp: Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene, Köln 2003

4) Danach ist das ganze Universum ein gewaltiges Ei gewesen, das auseinanderbrach und einen Riesen namens Pan Gu gebar. Der Riese wuchs, bis die Eierschalen über seinem Kopf den Himmel, die Schalen zu seinen Füßen die Erde bildeten. Nach achttausend Jahren starb Pan Gu, und die einzelnen Teile seines Körpers wurden zu den Elementen der Natur. Das viele Ungeziefer auf seinem Fleisch aber verwandelte sich in die Menschen. Eine Genesis, die unsere Spezies nicht als Herrscher, Flora und Fauna nicht als Manipulationsobjekte eines weitentfernten Gottes und dessen eingebildeten Stellvertretern inszeniert.

5) Für mich verkörpern Kochs viskose Punkte die eleganten Foraminiferen, jene fast unsichtbaren Einzeller mit Scheinfüßchen und Schwebestacheln, zu Beginn der Kreidezeit entstanden, aus deren Schalen die ägyptischen Pyramiden gebaut wurden. Vielleicht liegt hier ja die Zukunft einer ökologischen Architektur?!